Anna Lehnkering


1919 Anna 4 Jahre

Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ Anna Lehnkering kommt während des ersten Weltkrieges am 2. August 1915 als drittes Kind von Anna und Friedrich Lehnkering in Sterkrade (heute Oberhausen) zur Welt. Annas Vater stammt aus Mülheim; ein Teil seiner Familie mütterlicherseits ist bereits seit Jahrhunderten in der Stadt ansässig. Seit ihrer Heirat 1910 betreiben Annas Eltern eine Gastwirtschaft in Sterkrade. Dort wächst Anna mit drei Brüdern und später einem Stiefbruder auf. Annas Entwicklung verläuft zunächst normal.

Als sie etwa vier Jahre alt ist, bemerken die Eltern eine Veränderung. Sie wird unruhig und schreckhaft, zittert häufig am ganzen Körper. Annas Mutter spricht später davon, dass der Krieg mit all seinen Schrecken und der Not die Entwicklung des Kindes nachteilig beeinflusst habe.

1921 trifft die Familie mit dem frühen Tod des Vaters ein schwerer Schicksalsschlag. Vermutlich ist es kein Zufall, dass sich der gesundheitliche Zustand der damals sechsjährigen Anna deutlich verschlechtert. Ein Arzt, der Anna untersucht, meint: „Sie sei sehr nervös. Sie bedürfe guter Ernährung (Lebertran) und viel Ruhe (Landaufenthalt).“ Anna wird ein Jahr vom Schulbesuch zurückgesetzt, weil sie „zu schwächlich“ ist. Die spätere Diagnose für ihre Krankheit lautet „ererbter Schwachsinn“.

Als Anna mit sieben Jahren eingeschult wird, stellt sich schnell heraus, dass sie dem Unterricht nicht folgen kann. Schon nach kurzer Zeit wird sie in die Hilfsschule überwiesen. Doch das Lernen fällt ihr auch dort schwer und als sie mit vierzehn die Schule verlässt, sind ihre Schul- und Allgemeinkenntnisse sehr gering. Aufgrund ihrer Lernschwäche kann sie keine Berufsausbildung machen, aber da es in der Gaststätte viel zu tun gibt, ist sie zu Hause eine willkommene Hilfe. So verrichtet sie leichte Hausarbeiten, erledigt Besorgungen und macht Einkäufe.

1934 kommt es zu einer einschneidenden Veränderung im Leben der Familie. Nach dem Scheitern ihrer zweiten Ehe zieht die Mutter mit Anna und den beiden jüngeren Söhnen nach Mülheim (Ruhr) Saarn. Die gesamte Familie ist inzwischen in die Maschinerie der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik geraten. Im Interesse der "Höherentwicklung der eigenen Rasse" planen die NS-Rassenhygieniker, nach und nach die gesamte deutsche Bevölkerung „erbbiologisch“ zu erfassen. Auch in Mülheim wird eine Kartothek von „erbminderwertigen" Familien aufgebaut.“ (Quelle: Monika v. Alemann-Schwartz, ..dem Menschen verpflichtet. Die Geschichte der Stiftung Evangelisches Kranken- und Versorgungshaus zu Mülheim an der Ruhr 1850-2000. Mülheim/Ruhr, 2000, S. 282) Über die Familie Lehnkering hat man bereits in der Sterkrader Nachbarschaft Erkundigungen eingeholt. Das Ergebnis dieser Bespitzelungen und Denunziationen ist in Sippentafel der Familie festgehalten. Sie ist eine Mischung aus Wahrheit und Lüge und die Angaben beruhen erkennbar größtenteils auf Hörensagen. Die Komplizenschaft der kommunalen Verwaltungen im Dienste der „Erbgesundheit der Volksgemeinschaft“ funktioniert derweil gut. Nicht zuletzt bietet die Hilfsschule als „Sammelbecken der Minderwertigen“ hilfreiche Handlangerdienste. Ein typisches Beispiel für den Ungeist jener Zeit ist die 1936 vorgelegte Dissertation des Oberhauseners Wilhelm Lohoff mit dem Titel „Erbhygienische Untersuchungen an Hilfsschulkindern in den Städten Oberhausen (Rhld.) und Mülheim an der Ruhr“. Die Untersuchungen sollen „einen Beitrag lie­fern zu den Fragen der Erblichkeit des Schwachsinns und dessen rassenhygienischer, ernster Bedeutung, die in der überdurchschnittlichen Vermehrung der Minder­wertigen liegt.“ (Quelle: Wilhelm Lohoff, Erbhygienische Untersuchungen an Hilfsschulkindern in den Städten Oberhausen (Rhld.) und Mülheim an der Ruhr, Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Bd. 30, Heft 1, 1936, S. 42)

Natürlich begrüßen Lohoff und seine Gesinnungsgenossen das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), das 1933 als erstes Rassengesetz im Nationalsozialismus erlassen wird. So schreibt er: „Am 14. Juli 1933 wurde uns die Möglichkeit gegeben, volksgefährliche Erbmassen aus dem Fortpflanzungsprozeß auszuschließen.“ (Quelle: Lohoff, S. 62) Das GzVeN ordnet an: „Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.“ (URL: http://euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de/bez_dokumente-politik-erbgesundheitsgesetz.html) Ganz oben auf der Liste steht die Unfruchtbarmachung von Menschen mit „erblichem Schwachsinn“, zu denen auch Anna gehört. Aber es trifft auch Menschen, die an einer körperlichen oder geistigen Krankheit leiden oder nur im Verdacht einer solchen stehen. Neben der „genetischen Erblichkeit“ sind „Leistungsfähigkeit“ und „Brauchbarkeit“ entscheidende Kriterien für die Selektion. Wer - aus welchen Gründen auch immer - nicht in den „gesunden und leistungsstarken Volkskörper“ passt, wird von der Fortpflanzung ausgeschlossen. Dazu gehören viele sozial schwache Menschen. So bildet utilitaristisches Gedankengut gepaart mit rassenhygienischen Ideen die Grundlage für das Gesetz. Bis 1945 werden etwa 400 000 Menschen auf seiner Grundlage zwangssterilisiert. Mehr als 5000 Menschen sterben an den Folgen der Eingriffe. Laut Alemann-Schwartz werden in Mülheim bis 1940 insgesamt 819 Menschen „unfruchtbar gemacht“. Auch kommt es in der Stadt zumindest in einigen Fällen zu Sterilisationen mittels Röntgen- und Radiumstrahlen, Methoden, die später als gefährliche medizinische Experimente in den Konzentrationslagern Anwendung finden. (Alemann-Schwartz, a.a.O., S. 283)

Das Gesetz trifft überall auf breite Zustimmung, denn es erwächst aus Kontinuitäten im Denken, die in jahrzehntealten eugenischen und rassenhygienischen Ideen wurzeln. Ein typisches Beispiel ist das Fazit von Dr. Otto Beyreis, Leiter des Mülheimer Gesundheitsamtes, der 1935 feststellt: „Bei der Durchführung des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nach­wuchses‘ haben sich hier keine ernstlichen Widerstände gezeigt. Insbesondere ist nicht beobachtet worden, dass von kirchlicher Seite unerlaubte Hetze gegen das Gesetz getrieben worden ist." (Quelle: v. Alemann-Schwartz, a.a.O., S. 281 f) Bereits ein Jahr zuvor hat Beyreis das Mülheimer Schulamt angewiesen, ihm, „eine Liste von sämtlichen Hilfsschulkindern, die Ostern 1934 zur Entlassung kommen, auszufertigen. Ich bitte bei den Kindern, die von den Lehrern für geistesschwach oder epileptisch gehalten werden, einen kurzen Bericht des Lehrers anzufordern, und eine Abschrift des Schulentlassungszeugnisses beizulegen. Ich habe die Absicht, die Unfruchtbarmachung bei den unter das Gesetz fallenden Kindern im Laufe der nächsten Zeit durchzuführen.“ (Quelle: Aleman-Schwartz, a.a.O., S. 282)

Annas Unfruchtbarmachung wird vom Oberhausener Kreisarzt Dr. Ludwig Fleischer, dem späteren Leiter des Essener Gesundheitsamtes, (Quelle: Volker van der Locht: "Zwangssterilisation und Euthanasie in Essen", erschienen in: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, 123. Band 2010, Klartext Verlag, Essen 2010 S. 176 ff) beantragt und vom Erbgesundheitsgericht Duisburg beschlossen. Die Zwangssterilisierung der zwanzigjährigen Anna erfolgt am 2. November 1935 im evangelischen Krankenhaus der Stadt Mülheim an der Ruhr. Überhaupt ist das evangelische Krankenhaus in Mülheim ein schicksalhafter Ort für sie. Nachdem sie dort ein Jahr später wegen einer Nierenerkrankung Patientin ist, wird sie auf Anraten des Arztes Dr. Müller am 21. Dezember 1936 in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau (Kreis Kleve) eingewiesen. Der Arzt hält die „häusliche Pflege“ durch die berufstätige Mutter Annas für nicht ausreichend.

In den folgenden etwas mehr als drei Jahren wird in der Bedburger Patientenakte Annas seelischer und körperlicher Verfall dokumentiert. Die Eintragungen lassen keine persönliche Zuwendung oder Mitgefühl des Pflegepersonals erkennen und gipfeln in der menschenverachtenden Bemerkung, dass sie „lästig“ sei. Anna, die in der Erinnerung ihrer Brüder ein sehr liebes und sanftmütiges Mädchen ist, wird als zunehmend schwierige Patientin beschrieben. Vor allem wird immer wieder betont, dass sie die Arbeit in der Anstalt verweigere. Angeblich ist sie „weder im Schälkeller noch auf dem Feld zu gebrauchen“.


Anna Lehnkering vor dem
evangelischen Krankenhaus

Anna und ihre Familie ahnen nicht, dass Hitler im Herbst 1939 verfügt, man könne „unheilbaren Kranken“ den „Gnadentod“ (Euthanasie) gewähren. Anna erfüllt die Selektionskriterien ihrer Mörder perfekt. Sie gilt als „erbkrank“ und sie leistet keine produktive Arbeit. Damit ist sie nach der Ideologie der NS-Rassenhygiene „ökonomisch unbrauchbar“, eine „nutzlose Esserin“, die als „Ballastexistenz“ und „lebensunwerter“ Mensch zur „Ausmerze“ freigegeben werden kann. Im März 1940 wird Anna im Rahmen einer Massendeportation aus Bedburg-Hau in die „Euthanasie“-Vernichtungsanstalt Grafeneck in Baden-Württemberg „verlegt“. Sie ist 24 Jahre alt, als sie am 7. März 1940 in der Gaskammer von Grafeneck ermordet wird.

Anna war eine von etwa 300.000 kranken und wehrlosen Menschen, die der NS-„Euthanasie“, zum Opfer fielen. Das war kein „Gnadentod“, wie der Begriff „Euthanasie“ weismachen will, sondern grausamer, systematischer Massenmord an sogenannten Erb- und Geisteskranken, Behinderten und sozial oder rassisch Unerwünschten. Heute weiß man, dass die „Euthanasie“-Morde in organisatorischer, personeller und technologischer Hinsicht eine direkte Vorstufe zum Holocaust waren.

Ideologie und Praxis der nationalsozialistischen Rassenhygiene haben als historische Erfahrung in der deutschen Gesellschaft und natürlich in den betroffenen Familien Spuren hinterlassen. Die in weiten Teilen der Gesellschaft verankerte Akzeptanz rassenhygienischer Maßnahmen führte dazu, dass sich die Diskriminierung der Opfer und ihrer Familien nach 1945 fortsetzte. Das Stigma eines „Erbleidens“ und die damit verbundene „Minderwertigkeit“ löste in vielen Familien Scham aus und verhinderte so die Aufarbeitung der Vergangenheit. Das Verschweigen der Verbrechen wurde dadurch begünstigt, dass die Opfer von vielen als soziale Randgruppe gesehen wurden. Im Gegensatz dazu konnten die Täter, die zu Berufsgruppen mit hohem Sozialprestige gehörten, ihre Karrieren überwiegend unbehelligt fortsetzen.

Die Opfer der Krankenmorde waren viele Jahrzehnte lang „vergessen“. Doch es gibt inzwischen – nicht nur in Mülheim – Menschen, die das nicht hinnehmen wollen. Es ist dem Arbeitskreis „Stolpersteine“ in der Mülheimer „Initiative für Toleranz“ zu verdanken, dass die Opfer des Nationalsozialismus seit einigen Jahren aus der Anonymität in das Bewusstsein der Öffentlichkeit treten, dass auch Anna durch einen Stolperstein ihren Namen und damit ein Stück ihrer Persönlichkeit und ihrer Würde zurückerhalten hat. Unter dem Leitspruch „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“ erinnert seit 2009 ein Stolperstein in der Düsseldorfer Straße 38 an Anna.

Auf nur 230 Meter Länge erinnern inzwischen alleine in dieser Straße sieben Stolpersteine an Menschen, die einst Nachbarn waren und dann spurlos verschwanden. (URl: http://www.muelheim-ruhr.de/cms/stolpersteine_in_der_duesseldorfer_strasse.html) Die Steine setzen ein unübersehbares Signal gegen Ausgrenzung und Rassismus und für Menschlichkeit und Toleranz. Es ist zu hoffen, dass viele Menschen darüber „stolpern“, einen Moment innehalten, an die Opfer denken und nie wieder wegsehen, wenn Menschen in der Nachbarschaft Unrecht geschieht.
Text: © Sigrid Falkenstein (Nichte von Anna Lehnkering),  2011

Links

Opfer von Zwangssterilisation und NS-„Euthanasie“ im Nationalsozialismus

Die Geschichte von Anna Lehnkering http://gedenkort-t4.eu/de/vergangenheit/lehnkering-anna

Die Geschichte von Benjamin Traub http://gedenkort-t4.eu/de/node/84

Die Geschichte des Duisburgers Peter Verhaelen http://gedenkort-t4.eu/de/node/228

Interview mit Sigrid Falkenstein, Nichte von Anna Lehnkering http://gedenkort-t4.eu/de/gegenwart/videos

Internetseite zum Thema NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation von S. Falkenstein http://www.euthanasie-gedenken.de/


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